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In den vergangenen fünf Jahren sind etliche Meldungen, Berichte sowie viele Reportagen und Interviews von mir publiziert worden – hier Textformen-Beispiele für: Reportage, Glosse, Kommentar, Interview und Bericht.

Abendzeitung München, 17. Oktober 2018 (mit Alexander Bayer):

AfD im Bayerischen Wald

Der Bayerische Wald ist wieder AfD-Hochburg. Ein Besuch bei Wählern und Populisten in Mauth und Mamming. Was treibt sie an?

Das Dirndl eng, die Haare glatt. Ein Schluck aus dem Weißbierglas, ein Lächeln ins Publikum und dann geht’s los. Wer die blonde Frau auf der Bühne nicht kennt, der wartet jetzt auf Volksmusik, Gstanzl oder einen Vortrag über bayerische Küche. Aber das Fleisch gewordene Heimat-Klischee auf der Bühne heißt Katrin Ebner-Steiner und ist niederbayerische Spitzenkandidatin der AfD.

Es ist Wahlsonntag, kurz nach 18 Uhr. Am Rednerpult in Mamming bei Dingolfing hat die Politik-Quereinsteigerin die Ernüchterung der ersten Hochrechnung gerade verdaut. Mit etwa elf Prozent wird die AfD in den Landtag einziehen – deutlich weniger als die erhofften 17 Prozent. Jetzt warten die rund 100 Anhänger im Wirtshaussaal auf Ebner-Steiners Kampfansage.

Die Deggendorferin gilt als heißeste Kandidatin auf den Fraktionsvorsitz der künftigen Landtags-AfD. Sie ist das Gesicht der Parteierfolge in der Region. Auch an diesem Abend holt ihre Partei – wie schon bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst – in Ostbayern die meisten Stimmen im Freistaat. Von den zehn Stimmkreisen mit den besten AfD-Ergebnissen liegen acht in Ostbayern.

Spitzenreiter ist Freyung-Grafenau mit 16,2 Prozent, gefolgt von Cham und Deggendorf mit rund 16 Prozent. Hier draußen, im Osten vom Westen, zieht Ebner-Steiners Dirndl-Populismus.

So wie in der 2 300-Seelen-Gemeinde Mauth im Kreis Freyung-Grafenau, die schon bei der Bundestagswahl AfD-Hochburg war – 28 Prozent, Spitzenwert in Westdeutschland. Auch bei der Landtagswahl an diesem Sonntag geben hier 20 Prozent der Wähler ihre Stimme der AfD. CSU-Bürgermeister Ernst Kandlbinder glaubt an eine reine Protestwahl.

Einer dieser Denkzettel-Wähler steht am Nachmittag vor dem Wahllokal. Er ist um die 50, verdunkelte Brillengläser, Goldkette, Sandalen. „Klar, die AfD ist auch nicht die beste Partei, aber es gibt sonst kaum eine Alternative. Merkels Fresse kann ich nicht mehr sehen – da sage ich nur: Schleich dich, Bananenkind.“

Vom CSU-Landtagsabgeordneten aus dem Landkreis, Max Gibis, ist er enttäuscht. „Er tut nichts für uns.“ Der wütende Mann genießt die Aufmerksamkeit der Umstehenden. Was ihn politisch stört?

„Hier gibt es Leute, die haben ihr Leben lang gebuckelt, fünf Kinder in die Welt gesetzt, aber bekommen keine Rente. Der AfD muss man eine Chance geben, die sind als Opposition gut. Wir müssen jetzt Öl ins Feuer gießen.“

Es gibt aber auch jene, die nicht aus Protest wählen. Wie ein junges Paar, das etwas abseits steht. Es ist unschlüssig, würde aber die Grünen etwa allein wegen ihrer Diesel-Politik nicht wählen. Die Volksparteien hätten die Nähe zu den Bürgern verloren, sagt die Frau.

Bei der AfD-Wahlparty in Mamming inszeniert sich die 40-jährige Katrin Ebner-Steiner als Gegenpol zu diesen „Altparteien“. Als Erstes wolle sie im Landtag dafür sorgen, „dass Frauen sich nachts wieder raustrauen können“.

Asylzentren würde sie gerne in „grenznahe Gebiete“ verbannen

Bei anderen Auftritten wie auf dem Abensberger Gillamoos warnt sie vor einem Islam, der nach der Weltherrschaft greife, vom untergehenden bayerischen Volk. Das drängendste Problem in ihrer Heimat Deggendorf sieht sie im Ankerzentrum. Die Asylzentren würde sie am liebsten gleich ganz aus den Städten verbannen, hinaus in „grenznahe Gebiete“.

Ebner-Steiner gilt selbst in der AfD als Hardlinerin, sie zählt zum rechten Flügel. Den Thüringer Rechtsaußen Björn Höcke bezeichnet sie als guten Freund. Dabei schreit eigentlich alles an Ebner-Steiner nach CSU: Dirndl, Perlenkette, Familie, Heimatverbundenheit. Das Elternhaus ist christsozial geprägt, der Ehemann 30 Jahre lang Mitglied bei der CSU.

Wie kommt eine wie sie zur AfD? Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ habe ihr 2010 die Augen geöffnet. „Ihr Bayern“ sieht sie seitdem von der Islamisierung bedroht. So sehr, dass sie manchmal nachts nicht schlafen kann, behauptet sie.

Ähnlich diffuse Ängste gehen in Mauth um. Heute leben hier sechs Flüchtlinge. 2015 waren es etwa 60. „Das war bedrohlich“, sagt die junge Frau vor dem Wahllokal. „Die Kinder haben auf der Straße geweint, weil sie noch nie schwarze Männer gesehen haben. Und wir haben uns nicht mehr an den See getraut, weil da so viele Asylbewerber waren. Die haben uns verfolgt, beleidigt und betatscht.“

Ein älterer Herr um die 70 hat an diesem Sonntag die CSU gewählt. Er beobachte gerade „bedenkliche Parallelen zum Aufstieg der Nationalsozialisten. Vor allem, wenn man den Gauland reden hört.“ Dennoch sagt er: „Uns geht’s ja gut, aber die Flüchtlinge bekommen schon mehr als jemand, der von Hartz IV lebt.“

Laut einer Sprecherin der Regierung von Niederbayern bekommt ein Flüchtling im Ankerzentrum – neben Heizung, gespendeter Kleidung und Lebensmitteln – 120,27 Euro Taschengeld im Monat. Außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtung sind es 320,14 Euro.

Laut Hartz-IV-Rechner beträgt der aktuelle Basis-Regelsatz für Arbeitslose 416 Euro monatlich. Dazu gibt es Geld für Wohnung, Heizung und Medizin. Eltern und Schwangere erhalten zusätzliche Leistungen.

Der Wirtin in einem Gasthaus nahe dem Wahllokal in Mauth sind die Sympathien für die AfD unheimlich. Sie feiert nach der Hochrechnung das starke Ergebnis der Grünen und sagt: „Die Flüchtlinge haben hier nie Probleme gemacht.“

Das gute Ergebnis der Grünen beschäftigt auch die AfD-Anhänger in Mamming. Mehr noch als das eigene Abschneiden, wenn man den Leuten auf der Raucherterrasse glaubt. In den Wahllokalen gehe es nicht mit rechten Dingen zu, sind sich hier viele sicher.

MdB Protschka: „Wir sind zweistellig, wir saufen weiter“

Der niederbayerische Bezirksvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka erzählt einer Reporterin auf der Terrasse, dass er die elf Prozent für seine Partei fantastisch finde. Schließlich sei man aus dem Stand zweistellig in den Landtag eingezogen. Wenig später klingt Protschka bei einer Zigarette mit Bekannten ganz anders. „Und dann muss man in Interviews noch erzählen, dass man sich freut“, schimpft er.

Kurz darauf steigt er auf die Bühne im Saal. Mittlerweile ist es 20.15 Uhr. Auf der großen Leinwand läuft schon der Tatort. „Die ersten 50 Liter Freibier sind weg, aber ich hab’ noch mal 50 gekauft. Wir sind zweistellig, wir saufen weiter“, schreit Protschka ins Mikrofon. Verhaltener Jubel. Der Saal leert sich schon langsam. Die ganz große Party bleibt aus.

Auch in Mauth sind die Straßen wie leer gefegt. Ein Mann läuft schwankend durch die schwarze Nacht. Er hat die AfD gewählt. „Wo sind denn unsere großen Firmen, alle Arbeitsplätze sind weg. Die müssen das mal spüren. Schauen sie sich die Straßen an, seit vier Jahren warten wir darauf, dass die repariert werden.“ Er deutet auf Schlaglöcher. „Wir sind von der Welt vergessen worden.“ So wie er empfinden hier viele – zwischen Lokalpatriotismus und Schuldzuweisung. Da kommt eine Katrin Ebner-Steiner gerade recht.

Straubinger Tagblatt, 1. Februar 2020:

Wiedersehen mit Hélène

Ludwig Hammer hat die Malerin de Beauvoir aus dem Schatten ihrer Schwester, der Aktivistin Simone, geholt. Auch er wäre ohne sie nicht der Galerist, der er ist. Erinnerungen an eine tiefe Freundschaft

In einer schmalen Regensburger Gasse, die sich durch ein Tor windet, liegt die Galerie Hammer. Unauffällig, in einem rissigen, hautfarbenen Gebäude, an dem Efeu rankt. Bald soll sie schließen. Was bleibt, ist eine Geschichte, die weit über die alten Mauern hinausreicht – in eine Schatzkammer der Kunst, Spiritualität und Seelenverwandtschaft. Es ist die Geschichte von Ludwig Hammer und seiner Freundin, Hélène de Beauvoir.

Über eine geschwungene Holztreppe in der zweitstöckigen Galerie geht es in Hammers Reich: Bücher und Bildrollen stapeln sich kreuz und quer auf Tischen, ein paar Gemälde hängen an den Wänden. Von oben hat Hammer einen Blick auf seine Frau Pilar, die unten auf einem Sofa sitzt.

Der Galerist, 78, beugt sich über alte Fotos, das schwarze Jackett lose über das Hemd geknöpft. Hammer blättert in einem Album vor und zurück. Die Malerin Hélène de Beauvoir und er im Garten, in Ausstellungen, am Esstisch. „Hélène war sehr warmherzig, sie hat immer alle bewirtet. Sie war eine großzügige Person. Deshalb liegt mir viel daran, das weiterzugeben. Das ist mir Gott sei Dank auch gelungen.“

Hammers Galerie hat einen gewissen Ruf in der Kunstwelt. Er hat etwa seltene Pablo-Picasso-Bilder ausgestellt, Kontakt zu Yoko Ono, ist gut mit Herbert Achternbusch bekannt. Am liebsten aber waren ihm die vielen Werke von de Beauvoir. Er hat sie in 60 Jahren als Galerist zuerst in Weiden, dann in Regensburg ausgestellt, weltweit in Museen präsentiert, Lesungen, Reisen organisiert. De Beauvoirs Kunst wurde über die Donaustadt hinaus entdeckt und geschätzt.

Obwohl sie bis zu ihrem Tod 2001 etwa 6000 Bilder malte, hat sich die Künstlerin nie viel aus Vermark- tung gemacht. Richtig berühmt war sie nie. Und dann folgte sie ihrem Mann Lionel de Roulet, ein Diplomat, auch noch ins Elsass. „Sie wusste, wenn sie aus Paris fortgeht, ist ihre Karriere vorbei.“

De Beauvoir vermachte Hammer einen Großteil ihres Werks. Im Som- mer quollen ihre Bilder noch aus Schubladen, schmückten Wände. In der Galerie ist das meiste nun aus- sortiert, verpackt, verstaut. Jetzt wirkt die Galerie beinahe leer. Was bleibt, sind Erinnerungen.

Pablo Picasso nannte ihre Kunst originell

Wie sich 1970 zwei Wege kreuzen: Der in Weiden geborene Ludwig Hammer, 30 Jahre alt, groß, dürr, zerzaustes Haar, zieht sich vom All- tag der Oberpfälzer Kaufmannsfamilie mit zehn Geschwistern zurück. Er geht in ein japanisches Zen-Kloster. De Beauvoir studiert in Japan zur gleichen Zeit die Tuschemalerei.

Auf einer Schiffspassage von Yokohama nach Russland begegnet Hammer der zierlichen Französin mit den sanften Augen, die zu der Zeit schon 60 Jahre alt ist. Sie sitzen mit einem kanadischen Ehepaar an einem Tisch. Es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. „Da haben wir uns sehr gut unterhalten. Hélène hat sich ja über die japanische Zen-Kultur informiert, die Gärten und Galeristen.“

„Weißt du, mit wem du dich da anfreundest?“, soll einer der Kana- dier etwas eifersüchtig den ungestümen 30-Jährigen gefragt haben. „Das ist eine de Beauvoir!“

Ihre Schwester ist die Schriftstellerin, Feministin und Gefährtin des Philosophen Jean-Paul Sartre, Simone, die weitaus berühmtere de Beauvoir. „Hélène hat sich immer an Simone angehängt, sie vergöttert.

Dabei sind die beiden Schwestern völlig unterschiedlich. Simone ist intellektuell, kämpferisch, auf der Straße. „Sie hat aber nicht mit dem Körper gelebt – was die allein weggetrunken hat !“, erinnert sich Hammer. „Hélène hat die Ruhe im Atelier gesucht.“

Hammer zieht eine Mappe mit Kupferstichen aus einer Schublade hervor: Arbeiterinnen, Hélène und Simone, Tiger, Pferde, Umwelt – das waren de Beauvoirs Themen. „Ich habe einen besonderen Zugang zu ihren Bildern. Als sie älter und zittrig geworden ist, und ein Bild mal nicht so gelungen ist, hab ich gesehen, was dahinter ist. Ein Ausdruck von Seele.“ Auch Pablo Picasso nannte ihre Kunst „originell“, weil sie sich keinem Stil unterwirft.

Mit Oskar Schindler ausgeritten

Hélène de Beauvoir gibt Hammer 1970 ihre Visitenkarte. „I would be very happy to see you again.“ Bis zu einem Wiedersehen sollten aber noch zwei Jahre vergehen. Hammer muss warten, bis Hélène ihm schreibt. Denn in der Transsibirischen Eisenbahn nehmen russische Uniformierte Hammer Souvenirs ab. Auch die Karte ist weg. „Reiche Westler dachten die wohl.“ Dabei ist Hammer alles andere als reich, er kann sich gerade so die Überfahrt leisten. „Ich habe eine harte Zeit durchgemacht, gehungert, mich vergeistigt.“ De Beauvoir schiebt dem mageren Hammer auf dem Schiff immer Bratkartoffeln zu. Sie isst selbst nie viel.

Im Ersten Weltkrieg erlebt sie als Kind Hunger und kalte Winternächte. Auch Hammer kennt die harte Zeit aus seiner Kindheit im Zweiten Weltkrieg. „Bis zu meiner Pubertät war ich immer dünn, ein schwaches Kind, kränklich, dadurch bin ich schnell spirituell geworden.“ In seinen großen, dunklen Augen mal kindliche Freude, mal alte Traurigkeit.

Auf dem Boden liegt ein Ausstel- lungsplakat von 1945: „Pariser Widerstand und Befreiung.“ Eine französische Fahne bohrt sich in eine Reichsflagge.

Hammers Vater hat sich im Widerstand engagiert. „Er wurde im Stalag XIII in Weiden eingesetzt.“ Ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht. „Er hat dort so vielen geholfen.“ Auch mit dem Sohn von Stauffenberg und Oscar Schindler war die Familie befreundet. „Mein Vater hatte Pferde und sie sind zusammen ausgeritten.“

Hammer findet: „Wer heute an Krieg denkt, gehört in eine Zwangs- jacke oder eingesperrt.“ Pazifismus – auch das eint ihn und de Beauvoir.

Sie dachte an ihr Ende, dann sprach er vom Anfang

Der ehemalige Lehrer für Zeichnen und Malen an Sonderschulen kramt ein eigenes Bild hinter einer Tür hervor – ein Vogel, mit einem goldenen Ball im Schnabel. „Das ist der Schatz, der Hélène für mich ist.“ Für ihn war sie eine „Art Heilige“, sagt Hammer. „Sie hat sich ständig zurückgehalten, niemanden verletzt und sich eine so hohe Kultur erarbeitet. Es gibt so viel Brutalität, es gibt aber auch das andere und das war sie. Sie war eine Suchende. Sie hat Simone zwar gesagt: ,Ich glaube nicht an Gott.‘ Aber sie war immer suchend.“

Der 78-Jährige geht bald in den Ruhestand. „Da muss ich noch einen netten Galeristen finden.“ Vielleicht übernimmt auch einer seiner drei Söhne. Dann würde Hammer gerne schreiben, malen, meditieren.

Er zeigt ein Foto von Hélène im Bett. Auf ihrer Brust sitzt eine Katze. „Als sie schon alt war, war sie bettlägerig. Da war sie depressiv, ist operiert worden.“ Hammer ermutigte sie: „Hélène, jetzt sag ich dir mal was: Es gibt schon ein Leben nach dem Tod. Es ist nicht alles aus, das brauchst du nicht zu glauben. Dann hat sie mich so glücklich an- geschaut. Da ist mir das Herz aufgegangen.“ Hammers Stimme zittert, Tränen steigen ihm in die Augen.

Das Versprechen Hélène gegen- über hat er gehalten. Er hat die Malerin, die sonst weniger beachtet worden wäre, ein Stück weit unsterblich gemacht – und sie ihn: Die Galerie, sagt Hammer, wird er wohl nie ganz aufgeben – ist sie doch ein Teil von ihm und er von ihr. Der Galerist bleibt beim Abschied oben auf der Treppe stehen. Selbst, wenn es die Galerie einmal nicht mehr gibt, ist da immer die Aussicht, auf ein Wiedersehen mit Hélène.

Straubinger Tagblatt, 5. Februar 2019:

Anarchie in Ostbayern

Eine Glosse zum Wetterfloskel-Chaos und einer Nachrichtenmeldung über verschüttete Kühe, für die es aber dann noch nicht so übel ausging…

Schneeflocken sind zu Millionen im Aufmarsch gegen die gesellschaftliche Ordnung. Sie werfen sich wie messerscharfe Morgensterne vor Autos, schmeißen sich als Schneebrocken von Dächern und versperren den Kleinsten den Weg in die Schule. Die jammern natürlich schmerzlich, dass sie nicht in den geliebten Unterricht dürfen.

Doch die Flocken fordern erklärtermaßen die vollständige Anarchie und nehmen 54 Kühe und Kälber in einem niederbayerischen Stall kurzzeitig als Geiseln gefangen. Die stehen aber da wie der Ochs vorm Berg. „Was soll das?“, fragen sie sich und laufen Muh rufend mit den Flocken wieder raus.

Polizei, Räumfahrzeuge und Feuerwehren sind bayernweit im Dauereinsatz. Doch keine Chance. Draußen tobt der Krieg. Chaos bricht aus. Anarcho-Bäume mit grün-weißer Punkfrisur versperren mit Sitzblockaden Straßen und Bahnschienen.

Ihre kalten Kriegskameraden, die Flocken, besetzen schon Häuser in Teilen Ostbayerns, in denen sich Menschen zitternd zusammengedrängt verbarrikadiert haben – und sich drinnen doch endlich in Sicherheit wähnten. Dort lassen die Flocken aber den Strom ausfallen: „Ihr Leuchten, zu früh gefreut“, rufen sie schadenfroh durch Türen und Fenster, an denen viele von ihnen selbst wie Blutmatsch kleben.

Und der, der blau unterlaufen im schwachen Kerzenschein noch ein batteriebetriebenes Kofferradio aus dem Keller kramt, hört da die Nachricht der fidelen Moderatorin: „Liebe Hörer. Die Lage entspannt sich. Morgen ist mit leichtem Schneefall zu rechnen.“

Na toll, denkt man bei sich, mit Schneeschippe bewaffnet und Woll-Helm auf dem Kopf: „Geht das Schneechaos wieder von vorne los.“



Straubinger Tagblatt, 28. Februar 2019:

Haben die ’nen Knall?

Ein Kommentar über den Aktionsplan Wolf der Staatsregierung

Den strengen Artenschutz des Wolfes aufzuweichen, wäre absurd. Wieder wird der Beutejäger als Problemtier stigmatisiert – eines in einer langen Problemtierliste in Bayern.

Dabei bleibt die Population überschaubar. Und der scheue Wolf hat nach seiner Rückkehr nie Menschen angefallen. Oft waren das nicht angeleinte Hunde. Mal ehrlich, wer hat Angst vorm Wolf, wenn er im Bayerischen Wald spazieren geht? Das ist tumbe Märchenpropaganda.

Vielmehr ist der Wolf für das Ökosystem wertvoll, da er das Übermaß an Wildtieren, das nach seiner Ausrottung entstand, reguliert. Reh oder Wildschwein frisst er eh lieber als Nutztiere wie Schafe, die weniger als ein Prozent seiner Beute ausmachen. Deshalb sollten bisherige Schutzmaßnahmen genügen. Weidetierhalter könnten lediglich schneller für Verluste entschädigt werden.

Der Wolf muss aber nicht getötet oder gar ausgerottet wer- den. Beim „Jagd“-Jargon rechter Politiker läuft es einem kalt den Rücken herunter. Es müssen andere Lösungen her. Immerhin wären wir schuld, wenn es keinen Lebensraum mehr für den Wolf gäbe. Wir sind in die Territorien der Tiere eingedrungen, haben Straßen gebaut – auf denen die Risiken höher sind. Warum können wir nicht lernen, wieder mit der Natur zu leben?



taz, 19. März 2016:

„Sie wusste, dass etwas Schreckliches passierte“

Erinnerungen: Karin Nyman ist die Tochter von Astrid Lindgren – und froh darüber, dass ihre Mutter den Rechtsruck in Europa nicht mehr miterleben muss. Ein Gespräch über Politik, Pazifismus und Pippis Erfolge in China.

Ein kubistisches weißes Haus auf der Stockholmer Insel Lidingö. Lichtdurchflutet, hell, schnörkellos. Hier wohnt Karin Nyman, Astrid Lindgrens mittlerweile 81-jährige Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. „Die Ähnlichkeit kam erst im Alter“, Nyman lächelt verlegen, als sie am großen Bücherregal vorbeigeht. Hinter ihr geht ihr Mann, Carl Olof Nyman, langsam die Treppen hinauf. Die freundliche alte Lady setzt sich auf ihr beiges Sofa und serviert Tee, an diesem kalten, aber sonnigen Tag.

taz.am wochenende: Frau Nyman, erst am Wochenende waren Sie wieder in der Stockholmer Wohnung, in der Ihre Mutter 60 Jahre gelebt hat. Sie ist nun ein Museum?

Karin Nyman: Ja. Bisher hatten wir dort zwar bereits kleine Gruppenbesichtigungen, aber die Besucher mussten Mitglieder der Astrid-Lindgren-Gesellschaft sein. Oder Verwandte, Freunde. Seit November ist es für jeden, der an Astrid Lindgrens Leben interessiert ist, möglich, einen Besuch zu buchen.

Zeitgleich haben Sie sich dazu entschlossen, Astrid Lindgrens Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945 zu publizieren.

Wir wussten immer, dass das mehr Leute als nur die Familie ansprechen würde. Nur war die Menge kaum zu bewältigen. Über 18 Bücher voll mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln über den Krieg! Also dachten wir, dass es keine Möglichkeit gibt, den Stoff zu publizieren.

Was hat Sie zum Umdenken bewogen?

Meine Nichte kam auf die Idee, dass wir die Texte so herausbringen können, wie sie sind, nur eben ohne die ganzen Zeitungsartikel. Wir haben die Auswahl auf die Zeitungsausschnitte beschränkt, die sie damals selbst kommentierte. Die schienen ihr wichtig zu sein …

… neben einigen Fotos und vor allem Briefen aus der schwedischen Postzensur, wo Astrid Lindgren als Sekretärin arbeitete. Die Briefe hat sie heimlich entwendet – ein bisschen ­“pippilangstrumpfhaft“.

Es war natürlich geheim. Meine Mutter ergänzte dazu ihre eigenen Notizen. Die waren so geschrieben, dass wir nachträglich nichts mehr verändern mussten. Es würde eine gute Geschichte ergeben, auch ohne all die Artikel, und das haben wir jetzt daraus gemacht: eine gute Geschichte.

Was ist die Erzählung?

Sie gibt einen profunden Eindruck, wie Astrid Lindgren zu der Zeit lebte. Manchmal hat man das Gefühl, dass sie selbst als Augenzeugin dabei war – aber natürlich ist das alles nur aus zweiter Hand – und zur gleichen Zeit sehr lebendig. Ich habe die Tagebücher mein ganzes Leben über gelesen, also waren sie für mich nicht unbedingt neu.

Was hat Ihnen an den Tagebüchern am meisten gefallen?

Die Qualität der Unterhaltung. Das war, glaube ich, sehr wichtig, diese Art „Comic Relief“ – eine Befreiung vom Grauen durch den Humor.

Astrid Lindgren schreibt gegen Ende der Tagebücher, dass sie „am glücklichsten ist, wenn sie schreibt“. Wollte sie diese Bücher veröffentlichen?

Nein, ich glaube nicht. Aber man kann in den Tagebüchern gut Astrid Lindgrens Weg zur Schriftstellerin nachvollziehen.

Inwiefern?

Wenn sie von vornherein daran gedacht hätte, diese Bücher einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hätte sie sich vermutlich selbst zensiert, dann enthielten sie nicht so viele Passagen, in denen sie so frei und humorvoll schreibt.

An einer Stelle schreibt sie sarkastisch: „Schade, dass niemand Hitler erschießt.“

Ja, sie bedauerte die vielen vereitelten Anschläge auf ihn. Meine Mutter wollte die Tagebücher als Zeitdokument aufbewahren, während der Krieg weiter tobte. Zu der Zeit konnte man nichts im Internet suchen.

Ausgeschnittene Artikel – nach der Schule dann volontierte Astrid Lindgren bei einer schwedischen Tageszeitung.

Der journalistische Hintergrund spielte sicher eine Rolle. Auch später, nach dem Krieg, führte sie noch Tagebuch und schrieb eine Weile über die Kriegsgefangenen in den besetzten Ländern.

Werden die Tagebücher den Blick auf Astrid Lindgren verändern?

Oh, ich denke schon, vor allem in Deutschland. Astrid Lind­gren lehnte das Nazi-Regime vehement ab, aber sie empfand oft Sympathie für die Deutschen, vor allem für die Kinder, das wird im Buch mehrfach deutlich. Von deutschen Schriftstellern, Musikern, Komponisten war sie positiv beeinflusst. Ich denke, die Tagebücher werden vielen Lesern die Augen öffnen. Vielleicht werden sie ein wenig überrascht sein.

Wieso überrascht?

Ich glaube, in Deutschland war sie nichts anderes als diese Märchentante, die Kinderbücher aus Sehnsuchtsorten schreibt, die vom Krieg sehr weit entfernt sind.

Was hielten Sie von Deutschland?

Während des Kriegs hat Hitler die deutsche Sprache und Kultur für Ausländer gewissermaßen zerstört. Wir haben die Sprache unwillkürlich mit seinen Reden assoziiert, die wir immer und immer wieder im Radio hörten. Es hat uns eine Zeit gekostet, diese Sprache wieder als normale Sprache anzusehen.

Inzwischen sprechen Sie gut Deutsch, wo haben Sie das gelernt?

In der Schule, aber als wir weitere Fremdsprachen lernten, haben wir nur noch wenig Deutsch miteinander gesprochen, wir waren wirklich schlecht darin.

Ihre Mutter konnte auch gut Deutsch sprechen.

Ja, Sie hatten einen guten Lehrer. Sie haben deutsche Literatur gelesen und sich im Unterricht unterhalten. Damals war diese Lehrmethode noch sehr neuartig. Das ist heute etwas verloren gegangen.

In den Tagebüchern notiert Astrid Lindgren einmal, dass Sie, Frau Nyman, als Kind oft krank waren und sich vorgestellt hatten, dass es im Krieg nur Marmelade und Wasser gebe. War das so? Wie haben Sie den Krieg in Erinnerung?

Als der Krieg begann, war ich fünf Jahre alt, und als er endete, zehn. Leider habe ich an diese Zeit kaum eine Erinnerung. Was ich selbst bewusst erinnere, ist diese unheimlich graue, schwere Atmosphäre, doch keine richtigen Details.

Sie sind damals einige Male umgezogen, können Sie sich noch daran erinnern, wie eines Ihrer Zimmer aussah?

Mein Zimmer als Kind? Ein simples Kinderzimmer mit einem Bett, einem Tisch und Bücher­regalen. Damals gab es noch keinen Fernseher oder Musik-Anlagen.

Wie hat Astrid Lindgren den Krieg aus der Stockholmer Perspektive erlebt?

Sie hat es nicht gezeigt, aber sie war sehr besorgt, was auf der Welt, aber auch bei uns in Schweden passierte, obwohl wir sehr privilegiert waren. Sie empfand es wohl als ähnlich bedrückend.

Zunächst hatte Astrid Lind­gren mehr Angst vor den Russen als vor Hitler. Ich zitiere: „Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens ‚Heil Hitler‘, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben.“

Also zum einen ist es traditionell schwedisch, die Russen zu fürchten, weil sie seit Jahrhunderten eine Bedrohung darstellen. Die Schweden waren sich sehr sicher, dass eine Invasion der Russen sehr viel schlimmer sein würde als ein Angriff von Hitler. Meine Mutter hatte die Gefahr, die von den Deutschen ausging, noch nicht so bewusst wahrgenommen.

Dann aber erkennt sie, dass „mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, etwas nicht stimmen kann“ – wie es in ihren Aufzeichnungen heißt.

Ja, sie wusste, dass etwas passierte, etwas schrecklich Unausweichliches mit diesem Hitler.

Hitler hatte viele Sympathisanten und Nachahmer, auch in Skandinavien. Einer war der norwegische Nazi Vidkun Quisling. Ihre Mutter macht sich im Buch über ihn lustig.

Sie bezieht sich auf einen Witz, der über ihn gemacht wurde. Weil Quisling als „Führer“ seine Partei nach Hitlers Führerprinzip aufbaute, wurde gewitzelt, Quisling habe Hitler gefragt, ob er „Mein Kämpflein“ über sich selbst herausbringen darf. Mit der Zeit wird sie immer sarkastischer. Aber sie schreibt auch über die Judendeportationen, die vielen unschuldigen Menschen, die durch den Krieg verwaisten Kinder, für die sie sich eine friedliche Zukunft wünschte.

Als der Krieg anfing, war Astrid Lindgren aber noch nicht so pazifistisch, oder?

Ich denke, sie war nicht nur Pazifistin. Sie wollte wirklich, dass sich mehr schwedische Freiwillige melden, die für Finnland ­gegen die Russen kämpften, aber schlussendlich wurde sie zu einer Pazifistin, die erkannt hat, wie schrecklich der Krieg ist.

Dann kam „Pippi Langstrumpf“, zu deren Namen Sie Ihre Mutter inspirierten.

Ja, sie hat mir jede Nacht Geschichten erzählt, wenn ich zu Bett ging. Nach etwa drei, vier Jahren verstauchte sie sich den Knöchel und begann, Pippi Langstrumpf herunterzuschreiben und ein Buch daraus zu machen.

Die starke Punker-Heldin als Antwort auf den Krieg?

Ich nehme an, dass Pippi eine Möglichkeit war, von den Bedrohungen, den Katastrophen, der Repression wegzukommen. Einfach, indem sie sich jemanden vorstellte, der so unabhängig war wie Pippi.

Ist das der Grund, weshalb die mittlerweile über 70 Jahre alte Pippi immer noch von jedem Kind gekannt und geliebt wird?

Zurzeit ist sie zum Beispiel sehr populär in China. Ich habe eine Verlegerin getroffen, die erzählte, dass Kinder und Jugendliche dort kaum Freizeit hätten und ständig lernen müssten. Zudem gibt es viele Einzelkinder. Die brauchen eine Figur wie Pippi Langstrumpf, mit der sie gemeinsam Abenteuer erleben können.

Astrid Lindgren hat auch sehr traurige Figuren erschaffen. In „Mio, mein Mio“ zum Beispiel geht es um einen verwaisten Jungen. Geht diese Geschichte auf die Kriegswaisen zurück?

Das ist sehr gut möglich. Meine Mutter wusste von all den Kindern in Europa, die ihre Eltern verloren hatten, auf der Straße lebten und auf die schlimmste Art zu Waisen wurden. Aber sie hatte ja auch selbst diese spezielle Lebensgeschichte. Damals musste sie ihren Sohn zuerst zu Pflegeeltern geben.

Ihren Halbbruder Lars.

Für sie war die Geschichte „Mio, mein Mio“ vielleicht auch eine Art Aufarbeitung. Es wurde leichter, sich anhand einer Figur vorzustellen, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden.

Gab es etwas aus Ihrer Kindheit, das Ihre Mutter in den Kinderbüchern erwähnt?

Meine Mutter schrieb die meisten Geschichten basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Kind, sie hat sich diesbezüglich weniger von ihren eigenen oder anderen Kindern inspirieren lassen. Aber Kinder waren ihre wichtigsten Leser.

Wenn sie nicht gerade ihre eigenen Geschichten erzählte – welche Kinderbücher hat Astrid Lindgren Ihnen vorgelesen?

Ich erinnere mich an „Alice im Wunderland“ und „Winnie-the-Pooh“. Es gab so viele Bücher in meiner Kindheit. Auch in dieser Hinsicht waren wir sehr privilegiert. Ich denke, in Deutschland waren nur Nazi-Bücher erlaubt und als der Krieg anfing, sind keine anderen Kinderbücher entstanden, die diese in den Schatten stellen konnten. Dann kam Pippi und füllte diese Lücke vielleicht ein bisschen.

Haben Sie noch Andenken von Ihrer Mutter im Haus?

Ich habe ein großes Foto meiner Mutter an der Wand hängen und natürlich habe ich die Bücher aufgehoben, die sie geschrieben hat.

Wie war die Beziehung zu Ihrer Mutter?

Sie war sehr farbenfroh. Es war immer schön, mit ihr zusammen zu sein. Aber nicht unbedingt, weil meine Mutter uns Geschichten erzählte, Ausflüge unternahm oder mit uns spielte, sondern weil sie so voller Leben war, dass es sich bedeutungsvoll anfühlte, mit ihr zusammen zu sein.

Wie erinnern sich Ihre eigenen Kinder an ihre Großmutter?

Meine Kinder hatten eine sehr fürsorgliche Großmutter, die mit ihnen gespielt hat, als sie klein waren, und ihnen geholfen hat, wenn sie sie brauchten, als sie älter wurden. So erinnern sie sich an sie.

Sie haben oft Radtouren nach Småland unternommen. Besuchen Sie den Ort immer noch?

Ja, aber heute fahre ich mit dem Zug nach Småland oder mit dem Auto, um meine Cousins zu besuchen. Wir sind nun aber alle alt, zwischen 75 und 80. Mit dem Fahrrad fahren wir heute also nicht mehr.

Über die politische Astrid Lindgren

„In Deutschland war sie nichts anderes als diese Märchentante, die Kinderbücher aus Sehnsuchtsorten schreibt, die vom Krieg sehr weit entfernt sind“

In einer Astrid-Lindgren-Biografie heißt es, Astrid Lindgren sei nicht nur die lustige „Tante von Bullerbü“, sie sei auch der „Dostojewski“ von Bullerbü. Was, denken Sie, war das Geheimnis ihres Erfolgs?

Das Geheimnis ihres Erfolgs ist wahrscheinlich das: Sie erinnerte sich, wie es ist, ein Kind zu sein.

Haben Sie das Schreiben je für sich selbst entdeckt?

Ich habe nie Bücher geschrieben, nur einmal – es ist lange her – als ich gefragt wurde, ob ich für ein Kinderbilderbuch kleine Texte beisteuern könne. Es ging um Autos. Danach habe ich nie etwas anderes gemacht, als Bücher zu übersetzen.

Gibt es jemanden in der Familie, der schreibt?

Die Geschwister meiner Mutter waren alle sehr schreibbegabt. Ihr Bruder publizierte eine Reihe von Büchern. Eine Schwester war Literatur-Übersetzerin, eine andere Journalistin.

Sie waren maßgeblich an der Herausgabe von Astrid Lindgrens Büchern beteiligt. Wieso haben Sie sich damals entschieden, das Wort „Neger“ aus Pippi Langstrumpf zu streichen?

Wir mussten es leider ersetzen, auch wenn es ein historisches Wort ist. Ich habe mitbekommen, dass das Wort von Kindern in Schweden dazu genutzt wird, um andere zu beleidigen und bewusst zu verletzen.

Der Rechtsruck in der EU, brennende Flüchtlingsheime, tätliche Angriffe. Siebzig Jahre nach Kriegsende, stellt sich Astrid Lindgrens Frage, weshalb die Menschheit so wenig aus der Geschichte lernt, erneut.

Bei uns gibt es die Schwedendemokraten, eine rechte Partei, die für einen Aufnahmestopp von Flüchtlingen ist. Sie wird immer größer und fischt viele Stimmen aus allen Bevölkerungsschichten. Das ist sehr beunruhigend.

Was hätte sie dazu gesagt?

Nach 1945 haben die Menschen das Kriegsende enthusiastisch gefeiert. Von jetzt an wird die Welt endlich besser, so dachte man. Ich bin mir sehr sicher, dass wir als Kinder auch so dachten: Der Krieg war eine böse Zeit, die ist nun vorbei ist. Aber mit dem Bosnienkrieg verlor meine Mutter die Hoffnung, dass die Menschheit aus dem Krieg gelernt hätte und weiser geworden wäre. Das, was heute passiert, würde sie vermutlich zerstören, also bin ich froh, dass sie das nicht miterleben muss.

Über Karin Nyman

Leben: Geboren am 21. Mai 1934 in Stockholm als Tochter von Astrid Lindgren und dem Regisseur Sture Lindgren.

Wirken: Sie arbeitete vor allem als Übersetzerin – und verwaltet die Rechte von Astrid Lindgren.

Das Buch: Astrid Lindgren. „Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945“ Ullstein, Berlin 2015. 576 Seiten

Das Aus der privaten Seenotrettung?

Geplatzter Einsatz auf dem Mittelmeer nagt an der Sea-Eye-Crew – Ein Vor-Ort-Bericht

Ockergelbe, zerklüftete Felsen ragen bedrohlich wie spitze Speerpfeile empor. Sie formten einst den Naturhafen von Malta, den Grand Harbour. Jahrtausende haben ihre Spuren in den Steinen hinterlassen. Sie erzählen eine Geschichte, die stets von Fremdbestimmung geprägt war: Von Osmanen zur Zeit der Malteserritter, von Franzosen und wenig später von der britischen Kolonie. Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass heute die Europäische Union versucht, ihren Einfluss im Mittelmeer zu erweitern. Es geht um die Rettung von Flüchtlingen in Seenot. Ein Ziel, dem sich auch mehrere Hilfsorganisationen mit ihren Schiffen verschrieben haben. Doch fühlen sich diese im Moment gerade von der EU an ihrer Arbeit gehindert.

Die Seefuchs, das zweite Schiff der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye, ist seit Samstag bereit zum Auslaufen aus dem Hafen von Malta. Doch am Sonntag läutet Kapitän Sampo Widmann die Schiffsglocke. „Alle an Deck“, ruft der 74-Jährige. Der Einsatz, auf den sich alle vorbereitet hatten, ist geplatzt. Der Grund: „Wir sind nicht mehr sicher.“ Die libysche Küsten- wache hat ihre Zwölf-Seemeilen- Zone scheinbar willkürlich ausgeweitet, zwischen 70 und 90 Meilen ins Meer hinein. Möglicherweise be- reit, die privaten Nichtregierungsorganisationen (NGO) zu beschießen, die sich nähern.

Das Ziel, Leben zu retten, ist vorerst gestorben

Deshalb setzte Sea-Eye-Chef Michael Buschheuer die Rettungsmission vorerst aus. Sein anderes Schiff, die Sea-Eye, sitzt momentan am Hafen von Zarzis in Tunesien fest. „Eine Fortsetzung der Rettungsarbeiten ist unter diesen Um- ständen aktuell nicht möglich. Wir können das auch gegenüber unseren Crews nicht verantworten“, sagt Buschheuer am Sonntag.

Die Seefuchs schaukelt leicht im Wind, die Holzbalken knarzen. Ansonsten ist es still. Der Crew, sechs Männern und sechs Frauen, ist die Enttäuschung anzusehen. Das gemeinsame Ziel, rauszufahren und Menschenleben zu retten, ist vorerst gestorben. Nun sind alle wieder Fremde auf engstem Raum, mit ihren Eigenheiten und individuellen Bedürfnissen, zurückgeworfen auf sich selbst. Eine Zerreißprobe.

Kapitän Widmann, ehemaliger Architekturprofessor und leidenschaftlicher, ausgebildeter Seefahrer, zieht eine seiner buschigen Brauen hoch. „Es ist eine große Enttäuschung, ein politisches Versagen der EU-Politik. Es ist todtraurig.“ Bislang gebe es keine legalen Fluchtwege, keine nachhaltige Asylpolitik, nur fragwürdige Deals. Der gescheiterte Staat Libyen wurde von der EU mit 46 Millionen finanziell unterstützt, um Flüchtlinge wieder zurückzubringen, die Grenzen zu schützen.

„Das, was die Libyer machen, kann man mit der Ukraine vergleichen, hier wird einfach Seegebiet annektiert. Im Seerecht wird festgelegt, dass Menschen in Seenot in internationalem Gewässer aufgenommen und gerettet werden müssen. Das passiert beim Verhandeln mit einem Unrechtsstaat. Wir werden fremdbestimmt“, so Widmann, dessen Augen sich hinter den runden Brillengläsern verengen.

Dennoch steht er hinter der Entscheidung seines Chefs und als Kapitän vor der Herausforderung, die Crew zusammenzuhalten. Ein fester Dienstplan gehört dazu: „Wenn etwas so aus dem Ruder läuft, hilft nur Teamstärkung, für Einsätze trainieren und Strukturen.“ Es gibt Übungen mit dem Schlauchboot. Außerdem: Knoten machen, rostige Stellen übertünchen und für die Mannschaft kochen. Nebenbei versuchen, sich beim Treppenauf- und abstieg, dem Kletter-Parcours in ei- nes der Hochbetten der Acht-Mann- Kabine, nicht das Genick zu brechen. Hinzu kommen die Langeweile, die Spannungen, das zermürbende Warten auf ein Signal der Politik.

Die Ohnmacht ist das Schlimmste

Auf See stellt man es sich leichter vor, da das Ziel am Horizont nicht verblasst, doch am Hafen von Malta, der nicht viel mehr Charme als ein paar angespülte Colaflaschen und den Geruch von Motoröl und Unrat mit sich bringt, schlaucht die Hilflosigkeit umso mehr. Das Gefühl hat auch die gebürtige Landshuterin Eva Maria Deininger, die aus einer der Hängematten krabbelt. „Das war erst einmal eine Ohnmacht und dann eine Wut darüber, dass wir nicht rausfahren können. Und, dass Politiker der EU nicht dagegen vorgehen und uns daran hindern, vor Ort zu sein, wenn Flüchtlingsboote kommen.“ Die 53-Jährige lebt in Regensburg und ist beruflich Vormund unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Sie hat bereits einen Einsatz hinter sich, bei dem es zu einer Rettungsaktion kam. Auf einen Einsatz hatte sich auch die junge Ärztin Johanna Rockenbach vorbereitet. Der Behandlungsraum: zwei Holzliegen, ein kleines Regal – mehr nicht. Die Schiffe des Sea-Eye-Vereins sind nicht dazu gemacht, Flüchtlinge aufzunehmen, nur, sie im Notfall versorgen zu können.

2017 sind bereits 2400 Menschen ertrunken

Jetzt gibt es kaum noch Boote auf dem Meer. Nicht einmal die Moonbird, ein NGO-Flieger, konnte sie sichten. Die Zahlen sprechen für sich. Im August kamen laut Sea-Eye bislang 1 700 Menschen nach Italien, im Juli waren es 11459, im Juni sogar 23526. Eine massive Kehrt- wende in der privaten Seenotrettung. Steht das mögliche Aus bevor?

Rockenbach empfindet die Situation mehr als besorgniserregend. „Ich sehe es als ziemlich schrecklich an, dass Libyer die Kontrolle gewinnen und Flüchtlinge zurück in Foltergefängnisse kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dort Auffanglager gibt, wo es Menschen halbwegs akzeptabel gehen kann.“ Diverse Organisationen, darunter Amnesty International, hatten massive Menschenrechtsverletzungen in Libyen moniert. Die anderen NGO-Schiffe liegen auch alle am Hafen. Doch die 28-Jährige hält die Entscheidung, nicht zu fahren, für richtig. „Solange wir durch Beschuss gefährdet sind, sollten wir uns nicht in den Krieg stürzen. Die eigene Sicherheit geht vor. Mit Angst kann man nicht gut arbeiten.“

Sollten Schlepper neue Schlupflöcher finden, könnte das auch bedeuten, dass es wieder mehr Tote auf dem Mittelmeer geben wird. Allein in diesem Jahr verschlang das Mittelmeer 2400 Menschenleben.

Die Sonne legt sich rot über die messerscharfen Felsen, eine Cola-Dose wird an Land gespült, die europäischen Werte schaukeln am Hafen vor sich hin, an dem die Zeit stehen geblieben ist.